Bisher betrachtete ich die Beschäftigung mit Sport und Spiel als Selbstverständlichkeit, bis ich den Artikel des FIDE-Trainers Matvei Shcherbin1 las, der eine Verbindung von Schach und der UN-Kinderrechtskonvention herstellte. Der Schachtrainer M. Shcherbin kommt zu dem Schluss, dass Schach, obwohl es ein uraltes Spiel ist, dem Geist und dem Buchstaben der „Konvention über die Rechte des Kindes“ entspricht und das Recht des Kindes auf Entwicklung und Bewahrung seiner Individualität erfüllt.
Gibt es tatsächlich ein Grundrecht auf Sport und Spiel?
Ja. In der „Internationalen Charta für Leibeserziehung, körperliche Aktivität und Sport“, die die Vereinten Nationen in 2015 verabschiedete, ist das Recht auf Sport verankert:
• Jeder Mensch hat ein grundlegendes Recht auf Leibeserziehung, körperliche Aktivität und Sport ohne irgendeinen Unterschied nach Volkszugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen oder sonstigen Merkmalen2
• Die Freiheit, durch diese Aktivitäten körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen und Leistungsvermögen zu entfalten, muss von allen Regierungs-, Sport-und Bildungseinrichtungen gefördert werden.2
Eine andere Quelle für das Kinderrecht auf Sport und Spiel ist der Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention: „Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben; staatliche Förderung“ 3 , der folgendermaßen verstanden werden kann: „Im Sinne der Kinderrechtskonvention ist Sport ganz wesentlich eine entwicklungsorientierte Spiel- und Freizeitaktivität – ein Mittel zur Entfaltung – und deshalb durch Freude und (gesundheitliches) Wohlbefinden, Kreativität, Freiwilligkeit und Autonomie, persönliche und soziale Zielerreichung, sowie Leadership, Freundschaft, Kooperation und soziale Einbindung charakterisiert.“4
Der Mensch bestimmt, welche Bedeutung sein Handeln bekommt. Deshalb ist es einsichtig, dass Sport an sich keine Veränderung bewirkt, aber die gesellschaftlichen Instanzen (wie Eltern, Erzieher, Lehrer, Sportorganisationen, Verbände, Vereine, Massenmedien usw.) sind diejenigen, die mittels Sport Werte und Wissen vermitteln und die soziale Entwicklung fördern können. Sport (ob wettkampfmäßig oder nicht) muss in erster Linie als Mittel zur Förderung von Bildung, Würde und Menschenrechten verstanden werden.“ 5, was im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention steht.
In Deutschland wird der Sport auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene auf vielfältige Weise gefördert. Die integrative Wirkung von Sport ist die Basis für das Programm des DOSB „Integration durch Sport“, gefördert durch das Bundesinnenministerium. Inwieweit die Förderung ausreichend oder verbessert werden kann, muss an anderer Stelle diskutiert werden.
Kritisch kann die Fokussierung der Förderung durch die öffentliche Hand auf die olympische Sportarten gesehen werden. In der Gesamtbewertung von sportlichen Mega-Events wie Olympiade, Weltmeisterschaften und ähnlichen Veranstaltungen können oftmals Kinderrechtsverletzungen festgestellt werden. „.. es gibt auch eine Kehrseite der Medaille bei Sportveranstaltungen dieser Dimension. Oftmals werden Mega-Events ohne jede Rücksicht auf die Lage und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung vergeben und durchgeführt. Darunter haben insbesondere Kinder und Jugendliche zu leiden, denn sie gehören zu den besonders vulnerablen Gruppen innerhalb der benachteiligten Schichten.“ 4 Erinnert sei an die 6500 Toten beim Bau der Fußballstadien für die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar, wobei die Dunkelziffer noch höher liegen soll.6 Die renommierte Tageszeitung „The Guardian“ berichtete 2012 im Vorfeld der Olympischen Spiele in London, dass Mieter aus ihren Häusern vertrieben wurden, weil die Vermieter die Mieten erhöhten. 7 Deshalb sagen Mitarbeiter von Terre des Hommes „Sportliche Mega-Events sind zurzeit Anlässe von Eliten für Eliten“.4
Nicht nur sportliche Mega-Events beeinträchtigen Kinderrechte, sondern auch Kriege und Pandemien. Europa blieb gut 100 Jahre von einer schlimmen Pandemie verschont, bis das Corona-Virus 2020 Europa erreichte. Corona- bzw. die Covid-19-Pandemie brachte erhebliche Einschnitte in das Leben der Menschen und der Kinder. Auf bisher alltägliche Dinge wie Händeschütteln und Umarmungen verzichten viele Menschen als Schutzmaßnahme vor Covid-19-Infektion. Liebgewonnene Gewohnheiten wie Treffen mit Freunden, den Gang ins Fitnessstudio oder gemeinsam im Verein seinem Sport nachgehen wurden im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eingeschränkt oder untersagt.
Im zweiten Jahr der Corona-Pandemie steht die Bildungspolitik vor immensen Herausforderungen, um den Unterrichtsausfall auf Grund der Pandemie zu kompensieren, Lernrückstünde aufzuholen und den Kindern gute Zukunftsperspektiven zu geben. Die Diskussionen über zusätzliche Maßnahmen wie Nachhilfe, zusätzliche Unterrichtsstunden, Ferien verkürzen, Fächer von der Stundentafel streichen sind im vollen Gange.
Das Homeschooling konnte das gemeinsame Lernen an den Schulen nicht kompensieren. In der Schule wie im Sport bietet die Gruppe Halt, gibt Hilfestellung und spornt den Einzelnen an, gute Leistungen abzuliefern. Das Homeschooling erfordert ein hohes Maß an Selbstdisziplin, sich pünktlich am Computer für die Online-Unterrichtsstunde einzufinden, konzentriert der Videokonferenz zu folgen, Unterrichtsstoff allein zu erarbeiten und die gestellten Aufgaben zügig und erfolgreich abzuarbeiten. Es werden Qualitäten nachgefragt, die man üblicherweise von Unternehmern, Managern und Studenten verlangt. Es mehren sich die Stimmen und auch Studien, dass die Kinder besonders unter den Einschränkungen leiden und sich über Einsamkeit, Stress und Depressionen beklagen.
zusätzliche Bildungsausgaben um die Folgen der Corona-Krise zu meistern | |
Deutschland | Niederlande |
„Bis zu 2 Milliarden Euro Aktionsprogramm, um die Folgen der Corona-Krise für Kinder und Jugendliche abzumildern“
Stand: 26.04.2021 |
„Das Kabinett hat für die nächsten zwei Jahre 5,8 Milliarden Euro für die Primar- und Sekundarstufe bereitgestellt.“
Stand: 21.05.2021 |
Anlässlich des Internationalen Kindertages bitte ich die Politiker, das Wohl der Kinder nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Kinder müssen trotz des Nachholbedarfs beim Lernen, auch noch die Zeit haben, nach der Schule im Verein Sport zu treiben. Sport und Spiel tragen zu einer positiven Entwicklung der Kinder bei, weil sie das Selbstbewusstsein und die seelische Gesundheit stärken, Lebensfreude vermitteln, das Lernen unterstützen, Teamgeist fördern,…
Die Vereine bieten den Kindern einzigartige Möglichkeiten, voneinander zu lernen, sich auszuprobieren, den Charakter zu formen, Sozialkompetenz zu entwickeln, Emotionen zu kontrollieren, Ausdauer und Beharrlichkeit zu entwickeln. Der entscheidende Vorteil der Vereine gegenüber Schule und Eltern besteht meiner Meinung nach darin, dass die Kinder „unbeobachtet“ und die Beziehungen zwischen den Vereinsmitgliedern meist auf Augenhöhe sind. Das Kind ist ein anerkanntes Mitglied. Die Gruppe gibt Rückendeckung, spornt an und vermittelt auf eigene Weise die Grenzen für jeden Einzelnen. In guten Vereinen erfahren weder Schule noch Eltern, dass das Kind mal nicht so bei der Sache war oder sich etwas Ungehöriges erlaubt hat, wenn es sich nicht um etwas wirklich Schwerwiegendes handelt. Diese Abschirmung gibt dem Kind Sicherheit und Selbstvertrauen. das Kind lernt Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen.
Zurück zu dem anfangs erwähnten Artikel, warum das Schachspielen als ein Kinderrecht verstanden werden kann. Der Autor Shcherbin begründet seine Sichtweise damit, dass bei Kindern mittels Schach die kognitive Selbständigkeit gefördert wird, die wichtig für ein selbständiges Leben ist. Er verweist auf die Präambel der UN-Kinderrechtskonvention, in der das Ziel formuliert ist, das Kind umfassend auf ein individuelles Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. 3 „Der Lernprozess beim Schach hilft, sich zurechtzufinden, trainiert, sich zu erinnern, zu vergleichen und Informationen zusammenzufassen, trägt zur Verbesserung solcher Eigenschaften wie Aufmerksamkeit, Selbständigkeit, Geduld, Einfallsreichtum bei.“ 1 Zusammengefasst kann gesagt werden, Schach unterstützt die Herausbildung der in der heutigen Wissensgesellschaft benötigten Schlüsselqualifikationen.
Die Informations- und Wissensgesellschaft, in der Maschinen inzwischen Steuerungsaufgaben übernehmen, die noch vor kurzem die Menschen selbst ausübten, braucht Menschen, die nicht nur über exzellentes Fachwissen verfügen, sondern die das Wissen auch anwenden können. Dazu gehört es, die relevanten Informationen herauszufiltern, zu bewerten und mit anderen in Beziehung zu setzen. Die heute geforderte Problemlösungskompetenz benötigt Kreativität, wie Probleme analysiert und Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden. Da die Fähigkeit, etwas Neues zu lernen, wichtiger ist als das aktuelle Wissen, das wir besitzen (die Fähigkeit, das Wissen zu erweitern ist wichtiger als das statische System des angesammelten Wissens) ist die Entwicklung der kognitiven Unabhängigkeit eine der wichtigsten pädagogischen Aufgaben für das moderne Bildungssystem.8
Der Artikel von Matvei Shcherbin „ON THE WAY TO EDUCATIONAL AND COGNITIVE INDEPENDENCE OF THE CHILD“ kann in Deutsch hier nachgelesen werden. Die Originalversion in russischer Sprache ist über den Link erreichbar.
PS:
Die russische Formulierung der Kinderrechtskonvention „ребенок должен быть полностью подготовлен к самостоятельной жизни в обществе“ finde ich wesentlich klarer und treffender als die deutsche Version, dass das Kind umfassend auf ein individuelles Leben in der Gesellschaft vorzubereiten sei.3 Das russische Wort „самостоятельный“ entspricht dem deutschen Wort „selbständig“. Das deutsche Wort „individuell“ wird in der deutschen Alltagssprache meiner Meinung nach kaum mit „selbständig“ oder „eigenständig“ in Verbindung gebracht. Wenn man Nach Synonyme für das deutsche Wort „indviduell“ sucht, werden keine Ergebnisse angezeigt, die der Bedeutung „selbständig“ entsprechen:
https://www.duden.de/synonyme/individuell
https://www.wortbedeutung.info/individuell/
https://synonyme.woxikon.de/synonyme/individuell.php
Wie sehen es die Sprachwissenschaftler? Sie können mir Ihre Ansicht dazu mitteilen: info@chess-science.com
Referenzen
1 Shcherbin, M. D. Na puti k ucebno-poznavatel’noj samostoatel’nosti rebenka / M. D. Shcherbin // 30 let Konvencii o pravah rebenka: sovremennye vyzovy i puti resenia problem v sfere zasity prav detej : sbornik materialov Mezdunarodnoj naucno-prakticeskoj konferencii, 17 noabra 2020 g., Ekaterinburg / Ros. gos. prof.-ped. un-t. – Ekaterinburg: RGPPU, 2020. – S. 296-299. https://elar.rsvpu.ru/handle/123456789/32894
2 Internationale Charta für Leibeserziehung, körperliche Aktivität und Sport im Volltext, https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000235409_ger
3 Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention), https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-86530
4 Meier, Marianne; Schubert, Jonas; Kunischewski, Jens. (2016), Kinderrechte im Sportkontext – Zeitschrift für Menschenrechte 92-109 https://www.zeitschriftfuermenschenrechte.de/open-access/zfmr_2_2016.pdf#page=92
5 Isidori, Emanuele & Benetton, Mirca. (2015). Sport as Education: Between Dignity and Human Rights. Procedia – Social and Behavioral Sciences. 197. 686-693. 10.1016/j.sbspro.2015.07.060., https://www.researchgate.net/publication/282599477_Sport_as_Education_Between_Dignity_and_Human_Rights
6 23.02.2021, Bauarbeiten in Katar: „Guardian“ berichtet von 6500 Toten, https://www.kicker.de/bauarbeiten-in-katar-guardian-berichtet-von-6500-toten-798104/artikel#emlshare
7 02.2.20212, Tenants being priced out to make way for Olympic lets, https://www.theguardian.com/money/2012/feb/03/tenants-olympic-lets
8 Eliseev, Vladimir N. (2016). The development of cognitive independence of students of the University through networking cooperation – SHS Web of Conferences, https://www.shs-conferences.org/articles/shsconf/pdf/2016/07/shsconf_eeia2016_02014.pdf